Politikwissenschaften Bernhard Stahl
Wenn die Außenpolitik nicht spricht - das Verschweigen von Massenverbrechen in der Außenpolitik
Schweigen ist Teil des Alltags, nicht nur eines jeden Individuums, sondern auch in den außenpolitischen Routinen eines Landes. In der Außenpolitik werden bestimmte Themen angesprochen, andere gar ‘groß gemacht’, wieder andere dafür völlig verschwiegen. Obwohl diese Einsicht ein Gemeinplatz ist, wissen wir erstaunlich wenig über Schweigen in der Außenpolitik. Die Schweigeforschung hat einen etablierten Platz in der Philosophie, in der Theologie, in der Kommunikationswissenschaft und der Soziologie – in der Politikwissenschaft ist sie allerdings kaum präsent und in der Außenpolitikforschung praktisch gar nicht. In welchen Bereichen lässt sich nun Schweigen gut untersuchen? Hier bietet sich ein Bereich an, in dem man gemeinhin Stellungnahmen erwarten müsste, etwa, wenn Massenverbrechen begangen werden. Massenverbrechen wie Kriegsverbrechen (z.B. das zielgerichtete Töten von Zivilisten im Krieg), Verbrechen gegen die Menschheit (z.B. Massenvergewaltigungen) oder Völkermord (die beabsichtigte Ausrottung eines Volkes) sind durch die Charta der Vereinten Nationen und durch viele internationale Verträge gebannt – praktisch alle Staaten stimmen darüber überein, dass sie zu verurteilen sind. Darüber hinaus haben sich viele westliche Staaten selbst zum Ziel gesetzt, solche Massenverbrechen zu bekämpfen. So findet sich z.B. der folgende Satz in den Leitlinien der Bundesregierung (2017, 47): “Deutschland bekennt sich zu der besonderen Verantwortung, die ihm aus seiner Geschichte erwächst. Die Vermeidung von Krieg und Gewalt in den internationalen Beziehungen, das Verhindern von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen und das Eintreten für bedrohte Minderheiten sowie für die Opfer von Unterdrückung und Verfolgung gehören zur deutschen Staatsraison.” Trotz der internationalen Vorgaben und solch nationaler Selbstverpflichtung haben die Bundesregierungen in den letzten Jahren aktuelle nachgewiesene Massenverbrechen beschwiegen: Ob Kriegsverbrechen im Jemen, Verbrechen gegen die Menschheit in Äthiopien oder Völkermorde an den Rohingya in Myanmar und den Uiguren in China, nicht nur die Bundesregierungen, sondern auch der Bundestag mochte nicht über solche Massenverbrechen reden. Wie und warum ein solches kollektives Schweigen vorkommt, ist die Leitfrage des Forschungsprojekts.
Biografie
Bernhard Stahl, Professor für Internationale Politik an der Universität Passau, studierte Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Siegen und Münster und Europastudien an der RWTH Aachen. Seine externe Dissertation in Politikwissenschaften an der Universität Trier (1998) thematisierte einen Institutionalisierungsvergleich zwischen der Europäischen Union und der ASEAN in Südostasien. In seiner 2006 erschienenen Habilitationsschrift untersuchte er die Außenpolitik Frankreichs in Krisen mit Hilfe einer diskursgebundenen Identitätstheorie. Die EU-Außenpolitik sowie die Außenpolitik europäischer Staaten bilden einen Forschungsschwerpunkt (vor allem in Südosteuropa). Ein weiteres Forschungsthema ist das Beschweigen von Massenverbrechen in der Außenpolitik. In der Lehre vertritt er einen problemorientierten, breiten Ansatz, der u.a. im bereits in 3. Auflage erschienenen Lehrbuch „Internationale Politik verstehen“ seinen Niederschlag findet.
Publikationen
Ausgewählte Publikationen
When mass atrocities are silenced: Germany and the cases of Yemen, South Sudan, and Myanmar
Journal of International Relations and Development. 25, pp. 608-634, 2022
Theorizing Populist Radical-Right Foreign Policy: Ideology and Party Positioning in France and Germany
Foreign Policy Analysis, Volume 18, Issue 3, July 2022, orac006
Wie schnell wendet sich das Blatt? Die deutsche Außenpolitik und der Ukrainekrieg
Zeitschrift für Internationale Beziehungen (Forum Ukraine War), 30. Jg. (June), pp. 109-128, 2023